Dienstag, 28. Mai 2013

Vaterns "Märchenstunde" - Blog von Kiat Gorina

Gibt es eigentlich so etwas wie den großen “Münchhausen-Orden”? Wenn ja, müsste mein Vater ihn schon mehrfach verliehen bekommen haben. Wenn der nämlich von seinen Heldentaten anfing, log er, dass sich die Balken bogen. 

Es hat allerdings ein Weilchen gedauert, bis ich dahinter kam. Frisch aus der Lubjanka in diese komische Familie geraten, wusste ich sowieso nicht, wo mir der Kopf stand. 

So erzählte Vatern oft: “Die Dürkopp-Werke in Bielefeld haben mich bei Adler abgeworben, um dort Chefkonstrukteur zu werden. Dürkopp ging es damals nicht so gut, da habe ich den Laden erstmal umgekrempelt und in Schuss gebracht! Allein meinen Konstruktionen hat die Firma es zu verdanken, dass es jetzt bergauf geht! Hätten sie mich nicht bekommen, wären die schon längst pleite!” Usw. usw. Ob Vatern sein Getöne selber glaubte? Das werde ich wohl nie erfahren. 

Peinlich war es nur für zwei Verwandte von ihm, die seine Geschichten geglaubt hatten: “Wenn ihr mal nach Bielefeld kommt, zeige ich euch die ganze Firma”, prahlte er. “Ja, kannst du das so einfach?”, fragte Anni vorsichtig, “musst du nicht erst fragen, ob du uns hereinlassen darfst?” “Natürlich kann ich das! Ich bin schließlich der Chefingenieur!” 

Nun kamen Anni und ihre Cousine wirklich nach Bielefeld, und sie erinnerten sich an Vaterns Angebot. Sie pilgerten zu den Dürkopp-Werken und fragten arglos an der Pforte nach dem Chefingenieur Herrn K.” 

“Was, Chefingenieur?”, staunte der Pförtner, “wir haben zwar einen Herrn K., aber der sitzt irgendwo in einem Büro ... und murkst vor sich hin.” 

Oha, das war peinlich. Beschämt zogen die Cousinen von dannen. Von Vaterns Geschichten hielten sie seither nicht mehr viel. 

Vaterns Lügengeschichten hatten speziell für mich oft fatale und betrübliche Folgen. Wenn ich z. B. an die Geschichte mit dem Karussellpferdchen aus Kunststoff denke. 




Die kam mir heute wieder in den Sinn, als ich das Büchlein “Das patentierte Leichtgewicht” von Clemens B. Rintelen in meinem Bücherregal wiederfand. Es handelt von Ferdinand Schäfer, Vaterns Schwager, der in seiner kleinen Firma schon Anfang der 1960-er Jahre schwimmfähige Wohnwagen aus Kunststoff konstruierte und herstellte. 





Und noch so manches andere. Wie die allseits bekannten Automatenpferde, wo die Kinder 10 Pfennig in den Kassenschlitz warfen und sich dann selig ein Weilchen auf den wirklich hübschen Pferdchen mit den schwarzen Westernsätteln wiegen konnten. 

Ab und zu kamen Schäfers mal bei uns vorbei. Wenn etwas wegen der Oma zu besprechen war. Dabei stellte der kleine scharfsinnige Onkel Ferdi eines Tages etwas fest: “Sagt mal, kann eure Tochter eigentlich auch lachen? Die sieht mir immer reichlich 'bedröppelt' aus …” 

“Das geht euch gar nichts an!”, fauchte Vatern los, “das dumme Luder hat einen Tick, den wir ihr grade austreiben. Stellt euch vor, sie zerschneidet einfach unsere alten Zeitungen! Dabei kann man die doch noch brauchen!” 

“Ah ja”, Schäfers nickten sich bedeutsam zu, der Kippmannsche Geiz war wohlbekannt, “und warum tut sie das?” 

“Sie schneidet sämtliche Pferdebilder aus, die sie finden kann! Pfferde! So etwas Unnützes!” 

“Wenn sie Pferde mag, dann kann sie doch mal zum Reiten gehen. Das macht ihr bestimmt Spass ...”

“Das fehlte noch …” Längere Zetertirade folgte. 

Was Schäfers davon hielten, ahne ich zumindest. Denn sie brachten mir ein Modell ihrer Automatenpferde vorbei. Weißlichgrau, noch etwas rauh und unfertig. 

Egal! Ich schwebte im siebten Himmel! Endlich etwas, was ich auch anfassen und berühren konnte. Was eine bekannte und tröstliche Form hatte. 

Für diejenigen, die meine Geschichte nicht kennen: Nomadenkind - Armee - Lubjanka - eiskalte garstig keifende “Familie”. Von Muttern mit clownartigen Omakleidern ausgestattet - schon in der Schule die totale Isolation, nur gut als Lachnummer. Zuhause keine Wärme, kein einziges Tier, nichts …

Da ist es klar, was diese Pferdefigur für mich bedeutete. Wer nämlich ringsum nur Fremdes, Unbekanntes und Unverständliches vorfindet, freut sich über jeden halbwegs vertrauten Anblick. Ächzend schleppte ich das gute Stück in den Keller, um es da abzuschleifen und anzumalen. 

Tja, anmalen. Aber womit? Ich besaß nur einen schwarzen Filzstift und einen Tuschkasten. Für die Augen wollte ich den Filzstift nehmen und dann mit Klarlack aus diesem blöden Schmuckbastelkasten von Tante Friedhilde überziehen. Damit sie glänzten. 

Zweifelnd betrachtete ich die Farbnäpfchen. Das reichte hinten und vorne nicht - außer ich malte mein Pferd als Schecken an. Vergnügt pinselte ich los. Wenn ich das fertig hatte, wollte ich ein schönes Halfter fabrizieren. Ich hatte nämlich in Mutterns Putzlumpenkiste auch Reste von Kunstleder gefunden. 

Dummerweise kam einiges dazwischen. Und zwar in Form von Mutterns regelmäßig stattfindender Sachenkontrolle. Dabei sah sie alles genau durch. “Woher hast du das? Wofür brauchst das? ….” Dann der Hammer: natürlich kontrollierte sie auch meinen Farbkasten. Wozu? Da kann ich nur raten. Wahrscheinlich argwöhnte sie, dass ich darin eine Ameisenfarm betrieb oder gar irgend ein bazillenbehaftetes Tier beherbergte. Fehlanzeige! Aber: “Da fehlen ja Farben!”, schrillte sie los, sah genauer nach und entdeckte, dass schwarz und braun fehlten. 

Schon holte sie Luft, um eine ihrer berüchtigten Schuldzuweisungen von sich zu geben - da schellte es oben an der Haustür. 

Muttern rannte, mit meinem geplünderten Farbkasten in der Hand, nach oben um die Tür zu öffnen.
Uff, gerettet - dachte ich. Von wegen! Was da ins Haus quoll, gehörte zu Vaterns von mir so “geliebten” Verwandtschaft. Die beiden Frauen - Helga und Viola - hatte ich noch nie leiden können. Mutter Helga wollte immer alles so wie bei sich zu Hause haben, und wehe, sie bekam etwas anderes. 

Tochter Viola war so eingebildet, dass sie immer darauf wartete, dass ihr Spiegelbild sie zuerst grüßte. Dazu hatte sie, obwohl schon in reiferem Alter, noch ein Studium zur Sozialpädagogin angefangen.
Die Gute hatte doch sowieso schon “eine Meise unterm Pony”, dazu noch Sozialpädagogik. Also doppelt “bemeist”. 

Viola erspähte natürlich gleich den Farbkasten mit den leeren Farbnäpfchen. 

Aha! Schwarz und braun! Dustere Farben! Gleich erschreckte sie Muttern mit der Feststellung, dass ich mit Sicherheit manisch-depressiv sei! Das würde sie allein schon an meinem ausgefransten Pinsel erkennen, den ich noch in der Hand hielt. 

Sie schleppte mich gleich in die Essecke ab, um mir ernsthaft ins Gewissen zu reden und um ihren Verdacht bestätigt zu bekommen. 

“Schau mal, so ein schöner Tuschkasten”, säuselte sie mit seifenmilder Babystimme auf mich ein, “damit kannst du doch so schöne bunte Sachen malen! Muss es denn immer schwarz sein? Bist du so aggressiv, dass du solche Farben favorisierst?” 

Puh, die Gute musste wohl mit dem Klammerbeutel gepudert worden sein. 

“Was juckt es dich, was ich male? Schau dich doch mal im Spiegel an: Schwarz getuschte Wimpern und oben drüber alles in dunkel-lila. Sieht aus, als hättest du ein Veilchen. Ein Beerdigungsveilchen aber!”, schloss ich boshaft. “Soll ich deinetwegen vielleicht anfangen, Blümchenmuster zu malen?” Viola nickte ernst, sie schien meine Schnapsidee gut zu finden. 

Und ich schüttelte mich innerlich. Ein Pferd mit Blümchenmuster?! Und womöglich mit rosa Mähne? Grauenhaft. Inzwischen gibt es tatsächlich solch zuckrige Spielzeugpferdchen in Bonbonfarben zu kaufen.

Über die weitere Bemalung meines Pferdes brauchte ich gar nicht weiter nachzudenken. Als ich am nächsten Tag nach Hause kam, war es verschwunden. 

“Schäfers brauchten das Pferd für ein kleines Mädchen, sie haben es vorhin wieder abgeholt,” teilte Muttern mir im befriedigten Ton mit. 

Dass diese Geschichte stimmte, hatte ich stets bezweifelt. Und viele Jahre später kam die Wahrheit ans Licht: Schäfers besuchten uns in Mögersbronn. Sie begrüßten auch Tiger und dann kamen wir auf das besagte Kunststoffpferd zu sprechen. 

“Ich war schon sehr geknickt, als ihr das Pferd wieder weggeholt habt”, gab ich zu. 

Und Tante Millie riss vor Staunen die Augen kugelrund auf. “Was? Adolf hat es uns doch selbst  zurückgebracht. Er sagte, dass du es nicht haben wolltest. Gewundert haben wir uns schon. Aber du kennst deinen Vater ja gut genug um zu wissen, dass man besser nicht nachfragt ...”

Das war wieder ein Beispiel für seine ”fürsorgliche Vaterliebe” ...


Veröffentlicht am 12.10.2012 von HappyShiner


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